Mit spitzer Feder …
Graue Haare sind Schicksal, früher oder später. Das Schicksal liegt vor allem auf den eigenen Genen – und teilweise sind diese auch schon identifiziert. Hinzu kommen Faktoren wie Stress, oder auch Sonnenlicht. Wie stark sich diese Faktoren im Einzelnen auswirken, ist individuell unterschiedlich. Aber die Faustregel lautet: Mit 50 Jahren hat jeder Zweite mindestens 50 Prozent graue Haare. Man kann sie färben, man kann heimlich färben, man kann sie akzeptieren. Die Ursache, die so viele Menschen betrifft – Frauen wie Männer – liegt in den sogenannten Melanozyten. Wenn deren Farbstoffproduktion schwächelt, wenn Melanin fehlt, werden die Haare grau und später sogar weiss. Es ist nun mal ein haariges Thema, und es beschäftigt alle. Das Grauen rund um den Kopf kommt nur in seltenen Schicksalsfällen über Nacht, es ist vielmehr ein langsamer Prozess. Das ist der Lauf der Natur. Und er löst bei den meistens eine diffuse Angst aus.
Sie können es nicht sehen. Und ich auch nicht. Jedenfalls nicht ohne Brille. Und doch ist er wahr und da: Der Grauschleier hat sich ganz minimal – gemäss meiner Coiffeuse – über mein Haupt ergossen. Man sieht es nur bei ganz aggressivem Neonlicht, wie beispielsweise in meinem Lift. Und dies auch nur, wenn ich länger nicht mehr bei meiner Coiffeuse war. Obwohl in jedem Hochglanzmagazin das Plädoyer für graue Haare zu lesen ist und Frau geraten wird, endlich diesem Jugendlichkeitskult Adieu zu sagen, färbe ich meine Haare – regelmässig, alle sechs Wochen. Grau ist das neue Schwarz, liest man jetzt häufiger. Das ist nicht an den Haaren herbeigezogen, sondern von der Mode diktiert. Soll heissen: Grau ist jetzt richtig. Mir egal – ich habe gute Gene, eine relativ makellose Haut, ein jugendliches Gemüt und bin der «Schneewittchen Typ» – graue Haare passen nicht zu meiner Persönlichkeit, basta, Punkt. Es ist eine Krux mit den grauen Haaren: Machen wir uns nichts vor. Frauen trifft das Schwarz-Weiss-Denken unserer Gesellschaft stärker als Männer. Auch wenn nicht jeder Mann entzückt seine grauen Haare begrüssen mag: Seiner Attraktivität werden sie nicht schaden, sondern im Gegenteil den Ruf von Seriosität, Bonität und Weisheit unterstreichen – eben die graue Eminenz im Hintergrund.
«Granny Hair» ist schwer angesagt. Warum sich 30-jährige Frauen und Männer freiwillig Chemie in die Haare schmieren, um künstlich älter zu wirken? Für mich ist das ein Rätsel ohne Lösung. Es gefällt mir schlicht und einfach nicht – auch nicht an mir selbst. Es gibt durchaus Frauen, welchen graue Haare wunderbar stehen. Ich hingegen färbe hingebungsvoll ohne schlechtes Gewissen weiter den weissen Ansatz weg – bis zu meinem letzten Atemzug. Das hat für mich mit äusserer und innerer Schönheit zu tun. Mit Erhabenheit, Geborgenheit, aber auch mit dem Anspruch, sich gut zu fühlen, das Leben zu geniesse und im weitesten Sinne mit Grosszügigkeit und Respekt mir selbst und anderen gegenüber. Denn nur wenn ich mich in meiner Haut wohl fühle, kann ich für andere Menschen da sein, ihnen Gutes tun und positive Energie geben. Ich bin natürlich auch ein wenig eitel – schliesslich will ich mal eine möglichst schöne Leiche sein!
Ich möchte Tag für Tag bewusst ins Alter hineinwachsen. Je früher ich mich mit dem Unvermeidlichen engagiere – und das tue ich mit meiner Lesebrille bereits – desto besser. Ich weiss auch, das Alter wird noch ganz andere Kränkungen bereithalten – und ist doch ein Privileg. Doch auch ich lächle, wenn ein Mensch mich jünger schätzt. Auch ich stehe manchmal vor dem Spiegel und fahre mit meinem Finger über die feinen Linien auf meiner Stirn, die vor einigen Jahren noch nicht dort waren. Denn auch ich habe das Diktat einer Gesellschaft verinnerlicht, in der eine Frau nicht alt sein soll. Denn in dieser Gesellschaft ist der Anspruch an alternde Frauen, sich so jung zu repräsentieren, wie es nur geht. Weil das Altern in unserer Gesellschaft ausschliesslich mit einem Pfeil daherkommt, der in die Richtung von Verfall und Verlust zeigt. Und Hand aufs Herz: Altern ist teilweise sehr mühsam und eine absolute Zumutung. Die Fratze des Alters kann hässlich sein – sehr hässlich. Manchmal benötigt es Lebenskunst, mit viel Humor, Neugierde und Spiellust, um diese beschwerlichen Momente mit einem Lächeln zu ertragen. Dazu ist es – für mich jedenfalls – notwendig, wenn mindestens das Spiegelbild nicht allzu grau wirkt.
Herzlichst,
Ihre Corinne Remund
Verlagsredaktorin